Klaus Rohwer |
Jean 'Toots' ThielemansPionier der Jazz-Mundharmonika |
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Dieser Artikel ist erschienen in Heft 8 (Winter 1998/'99) der deutschsprachigen Mundharmonikazeitschrift Harmonica Player. Siehe jedoch auch meine aktuellen Anmerkungen dazu. Tänzer zwischen Lächeln "JAZZ auf der Chromonica?- Helmut Hohrmann, Oberkassel-Bonn, hat unter dem obigen Thema eine sehr aktuelle und auch umstrittene Frage angeschnitten. Wir stellen sie zur Debatte und sind gespannt, was Gegner und Befürworter dazu sagen werden. Gewiß mag diese Frage mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen werden, doch bevor wir uns mit ihrer Beantwortung beschäftigen, müssen wir uns einige grundlegende Fragen stellen..." So begann die Harmonika-Revue im Jahre 1957 einen Artikel, der von einem Konterfei Toots Thielemans' geschmückt war. Was "Gegner und Befürworter dazu sag[t]en", ist leider nicht überliefert. Heute ist es gar keine Frage mehr - auch nicht in Deutschland: Toots ist die Mundharmonika im Jazz. Alljährlich gewinnt er die Umfrage des amerikanischen Jazzmagazins Down Beat nach dem besten Musiker in der Kategorie "sonstige Instrumente" - schon seit Jahrzehnten. Längst stellt er mit der Mundharmonika alle anderen jazzungewöhnlichen Instrumente wie Cello, Fagott oder Harfe in den Schatten. Dabei sagte schon Clifford Brown (für alle Nicht-Jazzer: ein leider sehr früh verstorbener, aber dennoch legendärer, genialer Trompeter des modernen Jazz): "So wie du die Harmonika spielst, sollte sie nicht ein ,sonstiges Instrument' genannt werden!" - und das muß bereits vor dem Hohrmann-Artikel gewesen sein, denn als der erschien, lebte Brown schon nicht mehr. Selbst Down Beat steht dem Phänomen etwas hilflos gegenüber und schlägt vor, die Kategorie einfach in Toots umzubenennen... das war 1988. Jean Baptiste Thielemans - so sein bürgerlicher Name - wird am 29. April 1922 in Brüssel geboren. Seine Eltern haben ein Straßencafé in der belgischen Hauptstadt, und bereits mit drei Jahren spielt der kleine Jean dort Akkordeon zur Unterhaltung der Gäste. "Larry Adler brachte die Mundharmonika in mein Bewußtsein" In den dreißiger Jahren sieht er Filme, in denen Larry Adler spielt: "Er brachte die Mundharmonika in mein Bewußtsein", erinnert sich Toots - von Jazz war noch keine Rede. 1939 besorgt Jean sich eine diatonische Mundharmonika; wann er zur chromatischen wechselt, darüber habe ich keine klaren Angaben gefunden. Zum Jazz kommt er erst etwas später, als er Platten von Django Reinhardt hört - und ist sofort hingerissen. Mit Freunden zusammen gründet Jean Thielemans eine Tanzmusikkapelle, und sie besorgen sich amerikanische Swing-Platten. Als er immer besser wird und alle Tonarten auf der Harmonika beherrscht - und das geht schnell, denn er ist offenbar ein Naturtalent - meinen seine Freunde, es sei nun an der Zeit, das "Spielzeug" wegzuwerfen und sich ein "richtiges" Instrument zuzulegen. Eines Tages - Jean ist krank - bringt einer seiner Freunde eine Gitarre vom Schwarzmarkt mit (es ist Nachkriegszeit). Sie hören sich Platten an, immer wieder Hold Tight von Fats Waller, das er schon in- und auswendig kann. "Gib mir fünf Minuten zum Üben. Wenn ich dann 'Hold Tight' drauf spielen kann, darf ich die Gitarre behalten, o.k.?" Nach fünf Minuten spielt er Hold Tight, obwohl er vorher noch nie eine Saite angefaßt hat. Die Gitarre ist seine. Jean Baptiste Thielemans beginnt Mathematik zu studieren, will Lehrer werden. Doch schon bald gibt er es wieder auf, "aus Gesundheitsgründen". (Toots leidet an Asthma. Ob das damals der Grund für die Aufgabe des Studiums war, habe ich nicht herausgefunden.) Auch ein wenig Musik soll er studiert haben, doch... "das meiste habe ich von Django-Reinhardt-Platten gelernt." Aus Jean wird 'Toots' Jean spielt jetzt nach dem Krieg viel in amerikanischen Clubs in Belgien, zunächst im Stile von Django Reinhardt. Er spielt auch im Brüsseler Club Le Jazz Hot, aber dort kann er mit der Mundharmonika nichts werden: sie wollen sie einfach nicht hören. Also bleibt er zunächst ganz bei der Gitarre. Als es darum geht, wie die Namen auf den Plakaten lauten sollen, sind seine Freunde der Meinung, 'Jean' würde einfach nicht swingen. Es soll der Schlagzeuger gewesen sein, der vorgeschlagen hat, ihn 'Toots' zu nennen - nach dem Saxophonisten Toots Mondello, der beim King of Swing Benny Goodman spielt und den damals (1945) jeder kennt. In seiner Heimatstadt begleitet Toots jetzt schon einige musikalischen Größen der Zeit, Edith Piaf zum Beispiel, und Charles Trenet. Er jammt mit belgischen Jazzern wie dem Saxophonisten Bobby Jasper und dem Gitarristen René Thomas. Der Bebop packt auch ihn - wie so viele andere in den vierziger Jahren. Charlie Parkers Saxophonspiel ist wie eine Offenbarung, an der Gitarre ist es Parkers Weggefährte Charlie Christian, und daran orientiert sich Toots nun. 1947 oder '48 - da gehen die Quellen auseinander - wird Jean von einem Onkel nach Amerika eingeladen. Mit dem Reporter Bill Gottlieb zieht er durch die New Yorker Clubs - und spielt. Zumeist jetzt wieder Harmonika, aber auch Gitarre. Er spielt sogar in der 52nd Street, dem Brennpunkt des Jazzgeschehens zu dieser Zeit. Und jetzt kommt die Geschichte, die in keinem Artikel über Toots fehlen darf: Im inzwischen legendären Three Deuces hat er 1948 die Gelegenheit, bei Howard McGhee's All-Stars einzusteigen. Die Musiker sind am Anfang etwas skeptisch, schließlich haben sie noch nie mit einem Mundharmonikaspieler zusammen gejammt. Der Test sind die chromatischen Harmoniewechsel von I Can't Get Started: wenn man da durchkommt, dann ist man ein Bebopper. Wie könnte es anders sein - Toots kommt durch, und bereits nach acht Takten schenkt ihm Pianist Hank Jones ein Lächeln, das bedeutet: Junge, du bist akzeptiert. Nach Toots' Worten war zufällig ein Musik-Agent anwesend, der "die Asche von seiner dicken Zigarre wegschnipste und meinte: 'You from Brussels, huh? Dat's in Copenhagen, ain't it? Listen, kid, I'm gonna make ya da Belgian king o' bebop'." Toots geht wieder zurück nach Europa. Er schickt dem Agenten - Billy Shaw war sein Name - ein paar Aufnahmen von sich nach Amerika. Shaw spielt sie Benny Goodman vor - und der lädt Toots ein, in seiner Band zu spielen. Doch diesmal erhält Toots kein Einreisevisum für die USA. Aber dann geht der King of Swing auf Europatournee - und Toots mit ihm (1949/50). In Schweden trifft er Charlie Parker und bestreitet ein paar Konzerte mit ihm zusammen (1951). Anschließend - diesmal als Einwanderer - geht er nach Amerika. Dort steht er 1952 wieder mit Bird (Charlie Parker) auf der Bühne, am Earle Theatre in Philadelphia. Doch nicht nur Charlie Parker ist da, auch Miles Davis (tp), Milt Jackson (vib) und die Rhythmusgruppe von Dinah Washington. "Ich erinnere mich noch, daß mein feature 'After You've Gone' war, und Miles Davis und Charlie Parker spielten Riffs im Hintergrund. Das war uuuuuh..." "Bei George Shearing bekam ich meinen Feinschliff." Er gründet zunächst ein Trio, doch dann schließt er sich dem blinden Pianisten George Shearing an, dessen Quintett er sechs Jahre lang angehört (1952 - '58). Hier spielt er zunächst wieder nur Gitarre, aber immer öfter auch Mundharmonika. "Hier bekam ich meinen Feinschliff," erinnert er sich, "Von einem George-Shearing-Solo kann man immer etwas lernen!" Zu dieser Zeit schließt er auch Freundschaft mit dem Pianisten Bill Evans und dem Trompeter und Arrangeur Quincy Jones, beide damals Anfänger wie er - mit beiden sollte er später noch häufig und erfolgreich zusammenarbeiten. In Verbindung mit seinem Gitarrenspiel entwickelt er einen Stil, unisono mitzupfeifen, der charakteristisch werden soll, vor allem für seinen späteren großen Hit. Al McKibbon, Shearings Bassist, sagte einmal zu ihm, er würde besser pfeifen als spielen... und Toots wußte nicht so recht, ob er das als Kompliment auffassen sollte oder nicht. Rückblickend zählt sich Toots zu den führenden Jazzgitarristen in den USA der 50er Jahre. Man Bites Harmonica! Noch während dieser Zeit (1957/58) spielt Toots - Verzeihung: Jean Thielemans, so steht es drauf - seine erste Platte als Bandleader ein: "Man Bites Harmonica!"mit Pepper Adams am Baritonsaxophon, Kenny Drew am Piano, dem großartigen Bassisten Wilbur Ware, und Art Taylor am Schlagzeug. Hier stellt er auch schon zwei eigene Stücke vor, Soul Station und Fundamental Frequency. Louis Armstrongs traditionelles Stück Strutting With Some Barbeque erklingt in einem völlig neuen, coolen Stil. Wie Orrin Keepnews, der Produzent, in den liner notes schreibt, "besteht kein Zweifel: die Harmonika - wie Jean sie spielt - ist ein horn." Will meinen: Toots spielt sie mit der Phrasierung eines Saxophonisten. Pfeifen tut er auf diesen Aufnahmen noch nicht. Stéphane Grappelli, Jazzgeiger und Weggefährte von Django Reinhardt aus dem Hot Club de France, hatte nach Reinhardts Tod immer noch einen zusätzlichen Stuhl leer auf der Bühne stehen - Djangos Stuhl. Schließlich ergab es sich 1962, daß auch Thielemans einmal mit Grappelli spielte. Toots soll der erste gewesen sein, der den leeren Stuhl besetzen durfte. Bluesette Vor einem der Konzerte mit Grappelli fällt Toots eine kleine Melodie ein, im Dreivierteltakt. Er klimpert sie in der Garderobe auf der Gitarre und pfeift dazu. Grappelli kommt herein und besteht sofort darauf, daß er sie aufschreibt -toute de suite - und noch im bevorstehenden Gig spielt. Das Stück bekommt den Namen Bluette, nach eine Blume. Es wird ein Erfolg, und ein schwedischer Produzent meint: "Das ist doch ein Blues, warum packst du also nicht noch ein 's' rein?". Bluesette ist heute ein Jazz-Standard - Toots nennt es seine social security number. Ironischerweise ist sein größter Hit damit (ursprünglich) kein Harmonika-, sondern ein Gitarren-und-Pfeif-Stück! Aber Toots liebt beide Instrumente, und er hat einmal zu Protokoll gegeben, daß er sich wünsche, nie vor der Wahl zwischen Harmonika oder Gitarre stehen zu müssen. Jean 'Toots' Thielemans ist ein Weltbürger - aber eigentlich ein häuslicher Mensch. Er haßt es, aus dem Koffer zu leben. So läßt er sich immer wieder eine Zeitlang irgendwo nieder. Das ist in seinem Beruf nur mit Zugeständnissen möglich, aber die ist er auch immer wieder zu machen bereit. In den sechziger Jahren hat er sich in den USA häuslich eingerichtet, und um nicht so weit reisen zu müssen, nimmt er Jobs an, die sich ihm bieten. So zum Beispiel als Studiomusiker, aber auch, in Country- und Western-Shows aufzutreten. Dabei lernt er den Gitarristen Chet Atkins kennen, der ihm das Country Picking auf der Gitarre beibringt. Noch heute setzt Toots diese Fingertechnik bei manchen Stücken ein. Ein weiteres Betätigungsfeld und eine gute Einnahmequelle findet er in den sechziger und siebziger Jahren in Werbe-Jingles, die er zumeist pfeift, so für Old Spice Aftershave, Firestone-Reifen, Singer-Nähmaschinen und Dogburgers. In der Erkennungsmelodie von Sesame Street spielt er Mundharmonika - so daß man sagen kann: seine Musik kennt wirklich jedes Kind! Daneben spielt er in den Soundtracks mehrerer Filme mit (Midnight Cowboy, The Getaway, Sugarland Express, Jean de Florette) - meist auf Anregung von Quincy Jones, der mittlerweile bereits für zahlreiche US-Rock- und Popstars arrangiert. Und auch mit Popstars tritt Toots auf, zum Beispiel mit Billy Joel, Peggy Lee und Paul Simon - der übrigens sein Nachbar in Montauk (NY) ist. 1978 heiratet Toots seine geliebte Huguette; die beiden sind seither unzertrennlich, und er macht immer noch den Eindruck, als wäre er frisch verliebt - mit inzwischen 75 Jahren. Mitte der achtziger Jahre arbeitet Toots Thielemans sogar eine Zeitlang als Lehrer: als Gastdozent an der Eastman School of Music in Rochester, New York. "Der Schwerpunkt in meiner Musik und in meinem Leben ist der Jazz." Irgendwann kehrt er nach Brüssel zurück, denn hier muß er weniger Zugeständnisse machen: Er kann monatlich ein Dutzendmal in drei, vier umliegenden Ländern auftreten und trotzdem jede Nacht zu Hause schlafen. Auftreten - nicht in Cowboy-Shows (oder gar als Kabarettist, was er auch schon getan hat), sondern als Musiker in seinem Lieblingsstil: "Der Schwerpunkt in meiner Musik und in meinem Leben ist der Jazz." Jetzt leben Jean und Huguette Thielemans mitsamt Yorkshire-Terrier "Duke Ellington" in einem Landhaus im Grünen in der Nähe von Brüssel, doch sie haben ihre Wohnungen in Amerika behalten: eine in Downtown Manhattan und ein Haus in Montauk Point, nahe New York City. "Die Brasilianer sind ganz verrückt nach dir!" soll Miles Goodman, ein vielbeschäftigter Komponist aus Los Angeles 1992 zu Toots gesagt haben, "Du mußt unbedingt eine Platte mit ihnen machen! Sie kennen alle dein Album mit Elis Regina [siehe Besprechung im Harmonica Player No. 7] - und die ist ihre Billie Holiday." Es bedarf nicht vieler Überzeugungsarbeit, um Toots für das Brazil Project zu gewinnen; und es findet sich die crème de la crème der brasilianischen Musikszene ein - darunter Luis Bonfá (Orfeo Negro), Eliane Elias, Gilberto Gil, Ivan Lins (hatte bereits mit siebzehn einen portugiesischen Text zu Bluesette geschrieben), Edu Lobo, Milton Nascimento und Oscar Castro-Neves - sowie einige amerikanische Freunde wie Lee Ritenour und Dave Grusin (auch nicht ganz unbekannte Namen). Die Aufnahmen beginnen in Los Angeles und werden in Rio de Janeiro fortgesetzt. Mittlerweile sind aus diesem Projekt zwei CDs (Private Music, L.A.) hervorgegangen. Beeinflusser und Beeinflußte Natürlich hat Toots keine Vorbilder im eigentlichen Sinne - so etwas, wie er macht, gab es einfach vorher noch nicht. Auf der Mundharmonika ernsthafte Musik zu machen - ich zähle auch den Jazz dazu - das hat er bei Larry Adler gesehen. Beigebracht hat er sich alles selber. Aber es gibt viele, die ihn stilistisch geprägt haben, manche mehr, manche weniger. Der erste Einfluß war ohne Zweifel Django Reinhardt, dann kam wohl Charlie Parker (und was die Gitarre betrifft, Charlie Christian, Barney Kessel, Jim Hall...). Heute fühlt er sich mehr unter dem Einfluß von Leuten wie Herbie Hancock und Chick Corea - Leute, die mehr als zwanzig Jahre jünger sind als er. "Aber mein Schlüsselerlebnis sind immer noch die 64 Takte, die John Coltrane am Ende des Stückes Someday My Prince Will Come mit dem Miles-Davis-Sextett spielt. Da mußt du aufmerksam und andächtig zuhören, darum geht es in der Musik. Ich finde, daß diese 64 Takte für mich und die heutige Jazz-Generation der Leitfaden sind. Man sollte versuchen, seine Vorbilder zu schlucken, zu verdauen und zu assimilieren und nicht einfach nur zu kopieren... Versuche, dir deine Vorbilder zu eigen zu machen und damit deinen eigenen Weg zu gehen. Beim Jazz ist man entweder ein Genie oder man steht unter dem Einfluß derer, die den Weg angeben. Man hat Leute, die den Weg angeben, und solche, die folgen. Ich glaube nicht, daß ich einer der Wegweiser bin, vielleicht ein bißchen auf der Mundharmonika. Musikalisch gesehen bin ich ein "Folgender", ich versuche auf meine Art und Weise mit den Dingen weiterzuarbeiten, die ich von den Großen gelernt habe." "Stevie [Wonder] versucht immer noch so zu spielen wie du", hat Quincy Jones einmal zu Toots gesagt. "Und ich versuche so zu spielen wie er!", antwortete Toots, der erklärt: "Stevie hat dieses wunderschön Animalische, von dem ich wünschte, daß ich mehr hätte. Ich neige dazu, zuviel zu denken...". Gefragt nach den Höhepunkten seiner Kariere, nennt Toots heute Aufnahmen mit Dizzy Gillespie, Ella Fitzgerald, Chet Baker, dem Bassisten Jaco Pastorius ("Er behauptete, er wäre der Größte... und er war es!"), Bill Evans (Album Affinity) und nicht zuletzt Shirley Horn. "Ich nenne Shirley gerne ,meinen liebsten musikalischen Einfluß'. Shirley, die Sängerin, die Gruppe, das Piano, die Stimme - all dies gibt mir ,ein Lächeln und eine Träne'." - eine Formulierung, die Toots gerne gebraucht: "Dancing between a smile and a tear" Er begleitete Shirley Horn auf ihrem Album You Won't Forget Me (Verve), und sie ihn mit ihrem Trio auf seiner CD For My Lady (Gitanes Jazz/Polygram 1991). Der Titel leitet sich von einer gleichnamigen Komposition her, die er für Huguette schrieb. Auch dieses Stück ist mittlerweile dabei, ein Standard zu werden. Besonders angetan hat es ihm ihre Version von Gershwins Someone To Watch Over Me: "Hör dir an, wie wir anfangen. Es ist, als wenn man mit jemandem spricht, sehr ernsthaft spricht. Ich warte, sie spricht. Sie nimmt einen Atemzug - und ich weiß, ich kann jetzt ein paar Noten spielen. Und dann paßt sie ihre nächsten paar Noten an, an das, was ich gerade gemacht habe. Man muß nicht ein Uptempo-Stück spielen, um aufregend zu sein.", sagt Toots, "Geschwindigkeit ist in der Musik kein Anzeichen für Emotion. Man kann alle Gefühle in einer langsamen Nummer ausdrücken." Natürlich ist Toots Thielemans das Vorbild vieler, die Jazz auf der (chromatischen) Mundharmonika machen oder machen wollen - so auch meines. Einige bekanntere Europäer und insbesondere Deutsche seien hier genannt, die Liste erhebt keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit: Bruno de Filippi, Thierry Crommen, Rick Schenk (der auch äußerlich "auf Toots macht")[Der heißt eigentlich Freek Schenk, wie ich im Nachhinein erfahren habe; Anm. d. Autors], Hendrik Meurkens, Jens Bunge, Lars-Luis Linek [der spielt ausschließlich diatonische Mundharmonika, die aber vollchromatisch; Anm. d. Autors], Dieter Goal und - wie wir in Harmonica Player No. 7 erfahren konnten - Hermine Deurloo, die Toots sogar als seine "weibliche Nachfolgerin" bezeichnet haben soll. Ich selbst habe Toots bisher leider nur einmal live erlebt [Das hat sich inzwischen geändert, siehe unten; Anm. d. Autors]. Das war bei seinem Auftritt im magazine in Aalen am 19. April 1997 - also drei Tage vor seinem 75. Geburtstag. Er trat mit seinem eigenen (belgischen) Quartett auf, bestehend aus Michel Herr (p), Bart de Nolf (b) und Hans van Oosterhout (d), und es war natürlich ein hervorragendes Konzert. Nachher habe ich mir noch zwei CDs von ihm signieren lassen, und da machte er doch einen sehr erschöpften Eindruck, so daß ich ihn nicht unnötig lange belästigen wollte. Er hatte an diesem Abend wieder alles gegeben. Alle, die ihn persönlich kennen, heben immer wieder hervor, was Toots für ein liebenswerter Mensch ist, und wie angenehm es ist, mit ihm zu arbeiten. Am 25. April dann gab es in Brüssel ein gigantisches Geburtstagskonzert für - und von Toots! (Leider war ich nicht da.) In der ersten Hälfte spielte er - offenbar in wunderbarer Laune - sowohl mit seiner American Combo (Kenny Werner (p), Scott Colley (b), Billy Hart (d)) als auch mit belgisch-niederländischen Musikern: Bruno Castelucci (d), Michel Herr, Bert van den Brink (p), Bart de Nolf, Michel Hatzigeorgiou (b) und dem großen belgischen Jazzgitarristen Philippe Catherine - der musikalische Höhepunkt des Tages. Die zweite Hälfte bestritten die brasilianischen Kollegen, mit denen er im Brazil Project zusammengearbeitet hatte - eine großartige Hommage an Toots. Das Finale bildete eine gigantische Jamsession mit allen Musikern des Abends. Hohner ließ es sich nicht nehmen, Toots ein Sondermodell der nach ihm benannten Mundharmonika zu überreichen. Und die 7000 Zuschauer gingen auch in dieser Hinsicht nicht leer aus: die meisten erhielt einen Bonbon, der sich beim Auspacken als Little Lady erwies - mit einem kleinen Anhänger: "Love. Toots". "Auch darauf kann man bluesig spielen!" Womit wir bei der Ausrüstung wären: Meist - zumindest auf CDs - spielt er die Hohner 'Toots Mellow Tone', gelegentlich, wie zum Beispiel in Aalen, auch eine CX12 [Da muss ich mich wohl getäuscht haben; Anm. d. Autors]. Nie jedoch habe ich die Angabe gefunden, daß er die 'Toots Hard Bopper' (ebenfalls von Hohner) spielen würde, nicht einmal auf East Coast - West Coast, wo der Hard Bop (= East Coast Jazz) doch zum Programm gehört. Toots spielt nicht mehr auf der diatonischen Mundharmonika. "Da braucht man zu viel Puste, und ich habe Asthma. Das überlasse ich lieber den Jüngeren." Die Blues Harp "ist das erdigste Instrument auf der Welt. Diese hier [die chromatische Mundharmonika] ist der zivilisierte Bruder der Blues-Harmonika. Die ist der blues blues, die chromatische ist der jazz blues. Man wird süchtig danach! Und wenn du mitten in der Nacht im Hotelzimmer die Harmonika spielst, tritt dir keiner die Tür ein. Sie ist wie ein introvertierter Gefährte. Man kann darauf weinen." "Auch darauf kann man bluesig spielen", hält er seine Chromatische hoch, "Es gibt viele Dinge, die man nicht darauf tun kann, aber auch viele, die man tun kann. Einige Töne werden geblasen, andere gezogen, und das ist sehr hinderlich beim Phrasieren. Auf dem Saxophon wird jede Note geblasen, doch man kann nicht ordentlich legato spielen, wenn ein Ton geblasen und der andere gezogen wird. Es entsteht immer diese Pause, die man nicht vermeiden kann... Aber das will ich nicht mehr ändern: nach vierzig Jahren mit diesem Baby liebe ich es. Es hat mein Leben verändert. Es ist mein Leben." Die Gitarre, die Toots spielt, ist immer noch seine alte Gibson ES 175; er spielt sie über einen Roland Jazz Chorus. Ob er seine Mundharmonika auch darüber spielt, weiß ich leider nicht, ebensowenig über sein bevorzugtes Mikrofon. Jazz auf der Chromonica? Die Frage ist nicht mehr so sehr aktuell wie vor vierzig Jahren - aber auch nicht mehr umstritten. Noch immer ist die chromatische Mundharmonika kein typisches Jazz-Instrument geworden, und wird es wohl auch nicht mehr. Aber sie ist akzeptiert, und sie bereichert das Klangfarbenspektrum dieser Musikrichtung außerordentlich - dank Toots Thielemans. Klaus Ch. Rohwer, Ulm
Literatur:Helmut Hohrmann: JAZZ auf der Chromonica?, in: Harmonika-Revue, 1957; J. Levenson: Toots Thielemans, in: Down Beat 55 (12/1988), S. 14; Joachim Ernst Behrendt, Günther Huesmann: Das Jazzbuch - Von New Orleans bis in die achtziger Jahre, Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt am Main 1998; Carlo Bohländer, Karl Heinz Holler und Christian Pfarr: Reclams Jazzführer, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1990; Mike Zwerin: Toots Thielemans - Harmonica Heaven, in: Jazz Forum 131 (1991), S. 28f; Joe Viera: Jazz - Musik unserer Zeit, OREOS Verlag GmbH, Schaftlach 1992; Leslie Gourse: Toots Thielemans - Samba Rhapsody, in: Jazz Times 22/7 (9/1992), S. 52/87; Michael Bourne: Toots Thielemans - The Harmonicat, in: Down Beat 60 (8/1993), S. 22 - 24; Christoph Wagner (Hrsg.):Die Mundharmonika - ein musikalischer Globetrotter, Transit-Verlag Berlin 1996; Hans-Ulrich Denninger: Ankündigung zum Toots-Thielemans-Konzert im magazine in Aalen am 19. 4. 1997; Winslow Yerxa: Toots Thielemans - East Meets West, Besprechung der CD EastCoast - West Coast (Private Music 1994), in: Harmonica Information Publication (HIP) No. 5 (1997); Winslow Yerxa: Bringing It Together, Besprechung der entsprechenden CD von Toots Thielemans (Cymekob 1995), in: Harmonica Information Publication (HIP) No.5 (1997); Angela Ballhorn: Toots Thielemans - Guitar Player & Harmonicat, in: gitarre & bass11.97 (Nov. 1997), S. 71f; Jens Bunge: Toots Thielemans & Elis Regina - Aquarelo do Brasil, Besprechung der entsprechenden CD (Verve 1969), in: Harmonica Player No. 7 (Frühjahr 1998). Liner Noteszu folgenden Tonträgern: Mein Dank für die Unterstützung bei der Zusammenstellung von Informationen über Jean 'Toots' Thielemans gilt: Martin Häffner, Harmonika-Museum Trossingen - Christoph Wagner, Hebden Bridge (GB) - Wolfram Knauer, Jazz-Institut Darmstadt - Didi Neumann, München - Thorsten Nickel, Dortmund - Karl-Heinz Pappler, Ulm - Ralph Reiser, Blaustein Anmerkungen Toots Thielemans ist am 22. August 2016 im Alter von 94 Jahren verstorben. Aus diesem Anlass habe ich im November 2016 in Ulm einen Vortrag über "Die Mundharmonika im Jazz" gehalten, den ich gerne auch anderen Institutionen anbieten möchte. Toots-Links Liste meiner (nicht nur musikalischen) Veröffentlichungen. |
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(c) 2001 Klaus Rohwer Fotos: Harmonica-Revue, Gitarre & Bass, CD Liner Notes, Waring Abbot (Windham Hill) |